Die dritte Zerstörung
Welt 3.2.2018 Rainer Haubrich
Zigtausende Wohnhäuser müssen in den nächsten Jahren errichtet werden – auch mehr Sozialbauten. Es droht eine neue Welle der Kisten-Architektur. Dabei gibt es Alternativen.
Die ältesten Sozialbauten der Welt stehen in Augsburg. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts stiftete Jakob Fugger eine Reihenhaussiedlung für von Armut bedrohte Handwerker und Tagelöhner -140 Wohnungen in 67 Häusern. Die malerische Anlage mit ihren ockergelb verputzten Fassaden und roten Satteldächern wurde im Zweiten Weltkrieg zu zwei Dritteln zerstört, aber zum Glück nach historischem Vorbild wiederaufgebaut. So können bis heute bedürftige katholische Bürger hier wohnen. Dafür müssen sie eine Jahreskaltmiete von 0,88 Euro entrichten und täglich ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave-Maria für den Stifter und seine Familie sprechen.
Fünf Jahrhunderte nach der Errichtung der Fuggerei würden sich die meisten Bürger des Internetzeitalters in diesen Sozialwohnungen aus der Renaissance wohlfühlen – ausgenommen vielleicht der Zwang zum täglichen Gebet. Wenn man die Siedlung heute nachbaute, könnte man die Apartments zu Höchstpreisen verkaufen. Zwar wird sich niemand die damaligen sozialen und hygienischen Verhältnisse zurückwünschen, aber die architektonische Form selbst hat den Test der Zeit bestanden, sie erweist sich noch heute als ansehnlich und menschenfreundlich, und sie gibt bei aller Schlichtheit ihren oft vom Leben gebeutelten Bewohnern ein Gefühl von Würde.
Beim massenhaften sozialen Wohnungsbau in den Wohlfahrtsstaaten der Nachkriegszeit war es genau umgekehrt: Nie waren die sozialen Verhältnisse ausgeglichener, nie gab es für die Mieter so viel Licht und Luft, fließendes Wasser und Innentoiletten – aber die Architektur selbst markierte einen Tiefpunkt der Baugeschichte: wegen ihrer Gigantomanie, ihrer Nacktheit, ihrer Anonymität und ihrer hässlich alternden Fertigteile. Die Bewohner waren zwar „mit Wohnraum versorgt“, wie es technokratisch formuliert wurde, aber viele fühlten sich nicht behaust, sondern wie abgestellt weit draußen vor den Toren der Städte.
Was war schiefgelaufen? Die Vordenker der architektonischen Moderne wollten die Menschen doch mit fortschrittlichem Wohnungsbau „befreien“ – von den Spekulanten, von der Enge und den Krankheiten, vom „stilistischen Grau-en“ des Historismus. In der „Charta von Athen“ aus dem Jahre 1933 formulierten sie ihre Grundsätze: keine Straßenkorridore mehr, kein Block-rand, keine Hinterhöfe, kein Dekor – dafür nüchterne Wohnscheiben und Hochhäuser in Parks! Sie schrieben: „Wer könnte diese Aufgabe zum Gelingen führen, wenn nicht der Architekt, der die vollkommenste Kenntnis vom Menschen besitzt?“ Da klang schon ein Paternalismus an, der bis heute in der Zunft verbreitet ist.
Keine 40 Jahre später wurde im amerikanischen St. Louis die Sozialbausiedlung „Pruitt Igoe“ gesprengt. Die schematischen Riegel aus den 5oer-Jahren galten einst als Musterbeispiele neuen Bauens und waren vom American Institute of Architects sogar preisgekrönt worden. Doch das Projekt geriet zum Fiasko: mangelnde Akzeptanz, Verwahrlosung, Kriminalität. Der 12. Juli 1972, an dem die ersten Kästen in einer großen Staubwolke zusammensackten, gilt seitdem vielen als Anfang vom Ende der Wohnkonzepte der Moderne.
Langsam sahen auch in Deutschland die Letzten ein, dass man auf dem falschen Weg war und viele Städte nach der ersten Zerstörung durch den Krieg ein zweites Mal zerstört hatte: durch Abrisse und „autogerechten“ Wiederaufbau. Das Denkmalschutzjahr 1975 führte zu einer neuen Wertschätzung historischer Bauwerke und Viertel. In der Postmoderne kehrten auch im Wohnungsbau menschenfreundliche Maßstäbe zurück in die Stadtplanung – so bunt und verspielt vieles in der Architektur der Boer-Jahre auch gewesen sein mag. Aber bis heute gilt, was der Publizist Wolf Jobst Siedler 1964 in seinen: Bestseller „Die gemordete Stadt“ konstatiert hatte: Dass es nämlich mit den Mitteln der Moderne kaum irgendwo gelungen sei Ensembles zu schaffen, die es mit der Qualität der traditionellen, vormodernen Quartiere aufnehmen könnten.
Einer der Gründe ist die ungebrochene Herrschaft der Kiste und damit die Abwesenheit von Dachlandschaften. Wo die historische Stadt stolze Giebel kennt und aufragende Satteldächer mit Gauben, wuchtige Kranzgesimse oder eine krönende Attika, enden die meisten modernen Neubauten wie abrasiert mit einer Flachdachglatze – was den unschönen Nebeneffekt hat, dass sich an den Rändern mit der Zeit Schlieren bilden, weil es keinen traditionellen Dachüberstand mehr gibt, der die Fassaden vor dem Regen schützt.
Zum anderen sind in den meisten Architekturbüros nach wie vor klassische Elemente der Fassadengestaltung verpönt, etwa betonte Sockel, Rundbögen, Gesimse oder Pilaster. Lieber lässt man ausgestanzte Fensterlöcher tanzen, versetzt Stäbchen wie Barcodes, schraubt Metallpaneele an, lässt Balkone oder Erker herausstehen wie ausgefahrene Schubladen, entfacht Stäbchengewitter, feiert Farborgien oder macht ganz in Glas.
Spiegelt sich darin unsere gesellschaftliche Vielfalt? 1st die zeitgenössische Architektur ein Abbild ganz unterschiedlicher persönlicher Vorlieben? Keineswegs. Es gibt Studien, die belegen, dass es durch alle Gruppen der Bevölkerung durchaus eine verbindende Vorstellung von attraktiven Alltagsbauten gibt. Etwa jene Untersuchung der Technischen Universität Chemnitz, die anhand einer repräsentativen Auswahl von 100 Testpersonen zeigen konnte, dass sich die Präferenzen der Menschen unabhängig von Alter, Einkommen oder Bildungsgrad gleichen, egal ob Bauingenieurin, Obdachloser oder Kind.
Die große Mehrheit bevorzugt fein strukturierte Fassaden und ein ausgeprägtes Dach, beim Städtebau dominiert der Wunsch nach Harmonie und Orientierung am Kontext. Weniger als fünf Prozent der Testpersonen entschieden sich für einfache, nackte Flächen. Ähnliche Resultate erbrachte eine Studie der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen, die nach den attraktivsten Hoteltypologien fragte. Rund drei Viertel bevorzugten Bauwerke, die sich an den lokalen Architekturtraditionen orientierten. „Das Unbehagen an glatten, kalten Fassaden, an Beton,
Glas und Stahl bei Nichtarchitekten ist nicht zu übersehen“, resümierten die Autoren.
Diese Befunde werden nicht zuletzt durch die ungebrochene Attraktivität der Altbauviertel bestätigt, deren dichte, lebendige Quartiere mit ähnlichen, aber doch in Nuancen immer wieder unterschiedlich gestalteten Mietshäusern bis heute die architektonische Identität der Städte bestimmen. Welch ein Paradox: Ausgerechnet diese Gründerzeitquartiere – Produkte eines brutalen Baukapitalismus, hastig hingestellt, ohne jede kunsthistorische Bedeutung, von den Zeitgenossen geschmäht, von den Vordenkern der Moderne zum Abriss freigegeben -, sie sind heute Sehnsuchtsorte für den Großstädter des 21. Jahrhunderts. Und Vorbild für eine wachsende Minderheit von Architekten, die sich in ihren Entwürfen wieder an diesen Altbauvierteln orientieren.
Die große Mehrheit der Architekten aber will damit nichts zu tun haben. Fast hundert Jahre nach der Gründung des Bauhauses zeichnen sie immer noch die strengen, ausgenüchterten Kisten der damaligen Vordenker nach (während sie – welche Ironie – die klassischen Entwürfe der traditionsorientierten Kollegen „rückwärts-gewandt“ nennen). Man kann nicht behaupten, dass unsere Städte dadurch in den vergangenen Jahrzehnten schöner geworden seien.
Deshalb ist es so wichtig, vor der nächsten großen Welle des Wohnungsbaus nicht nur die nackten Stückzahlen im Auge zu haben, sondern auch das Stadtbild als Ganzes und dessen Ausstrahlung auf die Bewohner, genauer gesagt: die seelische Dimension von Architektur. Sollten die Wohnungsgenossenschaften, Baumeister, Planungsdezernenten und Investoren weitermachen wie bisher, werden wir Zeugen einer Verhässlichung sein, die man einst die dritte Zerstörung unserer Städte nennen wird.