In Leipzig und Potsdam sollten zwei von der SED gesprengte Kirchen rekonstruiert werden.
Jetzt aber laufen die Kritiker Sturm.
Warum die Zukunft der Gotteshäuser alle angeht.
Dankwart Guratzsch, die WELT, Seite 21 vom 17.10.2019
Mit den Kirchen haben viele Linke und Altkommunisten in den neuen Bundesländern noch eine Rechnung offen. Die Revolution, die vor 30 Jahren den SED-Staat zu Fall gebracht hat, ist aus ihren Mauern hervorgegangen. Diesen Hintergrund muss man kennen, um die Missgunst zu verstehen, mit dem Kirchenbauprojekte heute vielfach verfolgt werden. In den Fokus derartiger Angriffe geraten erst recht solche Vorhaben, die die Barbarei der Kirchenschleifung, die unter Walter Ulbricht ihren Höhepunkt erreicht hatte, wenigstens partiell wiedergutmachen sollen.
Vor genau 51 Jahre fielen dieser antichristlichen ”Flurbereinigung” zwei prominente Gotteshäuser zum Opfer: die kriegsversehrte Garnisonkirche in Potsdam und die völlig intakte gotische Universitätskirche in Leipzig. Diese beiden Kirchen sind – ganz unabhängig voneinander – gerade jetzt erneut Attacken ausgesetzt, die auf ihre kirchliche Nutzung zielen. In Potsdam wird versucht, den beschlossenen Wiederaufbau der Barockkirche nachträglich erneut infrage zu stellen.
In Leipzig hat die Universität verfügt, dass vom zugesagten Wiedereinbau der barocken Kanzel endgültig abzusehen ist. Wenn sich dabei kirchenfremde und -feindliche Kräfte in den östlichen Ländern mit allzeit gutgläubigen Linksintellektuellen, Neomarxisten und Kulturwächtern aus der westlichen Bundesrepublik verbünden, die arglos und verbissen noch immer der reinen Lehre des einstigen Kunstpapstes Georg Dehio anhängen, nach der jede exakte Rekonstruktion untergegangener Gebäude des Teufels ist, so darf diese ungleiche Genossenschaft nicht von den tieferen Gründen dieses Kampfes ablenken. Tatsächlich geht es auch heute noch und heute wieder um den Rang und die Position des Kirchengebäudes in der modernen Stadt.
Ohne dass dies explizit propagiert worden wäre, war den Kirchen ihre herausragende Stellung im Stadtkörper von den führenden Repräsentanten der architektonischen Moderne schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg abgesprochen worden. Diejenigen, die sich im Arbeitsrat für Kunst und in der Novembergruppe zusammengefunden hatten, Künstlervereinigungen, die sich schon in ihrer Namensgebung an sowjetische Vorbilder anlehnten, entwarfen Stadtbilder, in denen der traditionelle Platz des Kirchengebäudes von ”Volkshäusern”, ”Kulturpalästen” oder Sternwarten eingenommen wurde. Zu Berühmtheit haben es insbesondere die Stadtvisionen von Bruno Taut gebracht, die mit ihren pathetisch aufgetürmten säkularen Dominanten, sogenannten Stadtkronen, den Kirchen nicht nur ihren Platz in der Stadt streitig machten, sondern auch jede Erinnerung an ihre Rolle übertrumpfen sollten.
Exakt in diese Tradition stellte sich die DDR. In Potsdam wurde das Grundstück der Kirche durch ein Datenverarbeitungszentrum mit dem banalen architektonischen Vokabular, das die Architekturmoderne für das gemeine Funktionsgebäude zur Verfügung stellt, besetzt. In Leipzig wuchtete Hermann Henselmann ein Hochhaus neben die Universität, das mit seiner platten Symbolik des aufgeschlagenen Buches jeden Gedanken an die Überhöhung des Daseins durch Religion erschlagen sollte.
Nun ist der Streit in beiden Städten neu entbrannt. Dabei erweist sich die Situation Potsdams als besonders heikel. Denn niemand kann leugnen, dass die Garnisonkirche in einem unseligen Augenblick der Geschichte symbolisch für die Weihe des Nazistaates durch den Reichspräsidenten Hindenburg stand. Dieser Umstand dient allen Gegnern des Wiederaufbaus bis heute als zentrales Argument.
Demgegenüber argumentieren die Verteidiger mit dem künstlerischen Rang des zu diesem Datum exakt 200 Jahre alten Bauwerks von Philipp Gerlach, das schon der Kunstgeschichte Dehios als ”bedeutendster Sakralbau des preußischen Barock” galt. Zudem sei die Kirche durch den Widerstand des durch die preußischen Traditionen geprägten adeligen Offizierskorps gegen Hitler gleichsam selbst geadelt. All dies solle mit dem Wiederaufbau der Kirche in die Erinnerung zurückgeholt werden.
Der darin angelegte innere Widerspruch gehört zu den prägenden Aspekten des Streits, der sich an diesem Gebäude entzündet. Die Gegner, geschart um den Architekturtheoretiker Philipp Oswalt, unterstellen ein ”verzerrtes und bewusst verfälschtes Geschichtsbild, das wesentliche Fakten der Kirchengeschichte ausblendet und einige wahrheitswidrig verfälscht”. Ausgeblendet würden ”die Rolle der Militärkirche bei den Kriegsverbrechen in den Deutschen Kolonialkriegen, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg.” Außerdem sei das Wiederaufbauprojekt ”von dem rechtsradikalen ehemaligen Bundeswehroffizier Max Klaar 1984 initiiert und betrieben worden”. Vom Kunstwert des Bauwerks ist nur in einem Halbsatz die Rede.
Erstaunlicherweise hat Oswalt für dieses Plädoyer die Unterschriften selbst einiger namhafter Architekten gewinnen können, und das, obwohl er auf nichts Geringeres als auf bewusst anzubringende Retuschen beim Wiederaufbau des historischen Originals zielt. ”Ich halte es für erforderlich”, schreibt Oswalt, ”dass auch die architektonische Gestaltung innen wie außen erkennbar von dem historischen Bau differiert.” Als Beispiel nennt er die Embleme und die bildhauerische Ornamentik der Kirche mit ”Waffenschmuck und Kriegstrophäen”, mit deren Rekonstruktion offenbar etwas ”zum Ausdruck” gebracht werden solle. Die Argumentation bedient sich hier der alten fragwürdigen Vorstellung, dass man historische Bauwerke ”entgiften” müsse, um sie für zarte Demokratenseelen erträglich zu machen. Aber eine nachträglich zensierte Geschichte kann es nicht geben. Sie würde Narrativen vorarbeiten, die Geschehenes als ”halb so schlimm” und ”überbewertet” erscheinen lassen wollen.
Einen ersten Erfolg verbucht Oswalts Initiative bereits mit der Abschaltung des berühmten Glockenspiels, das als Vorleistung für den Wiederaufbau mit Privatspenden rekonstruiert worden ist. Was vorher niemand bemerkt hatte: Die Namen der Stifter, darunter rechtsnationale Soldaten- und Traditionsbünde aus dem Umkreis von Max Klaar, sind den Glocken als Widmung eingraviert. Das ist zwar übliche Praxis bei größeren Spenden, verleiht den Glocken aber nach Meinung des Kritikers ”rechtsradikale Hintergründe”. Für Oberbürgermeister Mike Schubert (SPD) ist es Anlass genug, erst einmal ”wissenschaftliche Untersuchungen” anzukündigen.
Aber hat man da die Botschaft der Glocken wirklich richtig verstanden, die ja keine Kriegsgesänge intonieren, sondern mit den von König Friedrich Wilhelm III. persönlich ausgesuchten Melodien ”Üb immer Treu und Redlichkeit” und ”Lobe den Herren”, dem Lieblingschoral von Königin Luise, zu Frömmigkeit und Versöhnung aufrufen? Wenn die Potsdamer Chronistin Dorothee Goebeler 1924 anrührend schrieb: ”Unter ihren Klängen sind unsere Großmütter schon herangewachsen, unsere Ururelternväter haben nach ihnen die eigenen Uhren gestellt”, und wenn sie dabei empfand, durch die Fenster herein komme ”der liebe alte Glockenklang wie Trost aus ewigen Höhen”, beschreibt sie eine viel nachhaltigere Wirkung dieser ”Singeuhr”, als sie jede zeitgebundene Widmung auslösen kann.
Ganz anders deshalb auch die Argumentation der bürgerlichen Initiative ”Mitteschön”, die sich dafür einsetzt, dass nicht nur der Turm, sondern auch das Kirchenschiff in historischer Gestalt rekonstruiert wird. Nur so könne das Bauwerk ”Geschichte fassbar und konkret” machen und über die kirchliche Nutzung hinaus auch durchaus erwünschte weitere Aufgaben übernehmen. Über allem aber steht für diesen Bürgerverbund das Ziel, nach dem bereits wieder aufgebauten Schloss ”das zweite historische Gebäude” für Potsdam zurückzugewinnen, das ein ”historisches Erkennungszeichen der Stadt” war.
Dass der Fall in Leipzig anders liegt, erhellt schon daraus, dass die Universitätskirche nach endlosem Ringen, wenn auch in veränderter Gestalt, wiederaufgebaut ist und sich der einstigen Doppelnutzung durch Kirche sowie Universität erfreut. Am 10. September aber hat der Akademische Senat der Uni ”ohne Einbeziehung des Bauherrn und des Universitätspredigers” beschlossen, die historische Kanzel, die aus der zur Sprengung vorgesehenen Kirche gerettet worden war, nicht wieder anbringen zu lassen. Den Universitätsprediger und Hochschulprofessor Peter Zimmerling trifft es wie ein Schlag. In einem ”Offenen Brief” an die Rektorin Beate Schücking fordert er jetzt, die vertraglich festgeschriebene Entscheidung zur Rekonstruktion nicht zu widerrufen.
Nach dem überwiegend modernen Wiederaufbau sollte wenigstens mit der Kanzel an die Geschichte von Dominikaner-Kirche und Universität angeknüpft werden. Aus ihr ist ja die Universität historisch überhaupt erst hervorgegangen. Gegen ihre Sprengung haben Studenten aufbegehrt, die wegen ihrer an die Geschwister Scholl erinnernden Flugblattaktionen im Gefängnis saßen.
Für ihren Wiederaufbau haben sich neben hochrangigen deutschen Repräsentanten der Kulturszene auch amerikanische Nobelpreisträger eingesetzt. Und dabei ist es immer auch und gerade die Kanzel gewesen, um deren Rückkehr gerungen wurde. Sie spiele, so der frühere sächsische Landeskonservator Heinrich Magirius, ”eine entscheidende Rolle als Bindeglied zwischen dem Chor und dem Langhaus. Eine andere Stelle als die historisch vorgegebene ist für die Kanzel kaum denkbar.” Aber gerade um ”diese entscheidende Rolle” geht es.
Wie wichtig die Kanzel, das einzige erhaltene Werk des Holzbildhauers Valentin Schwarzenberger in Leipzig, für das Paulinum tatsächlich ist, bezeugt auch der langjährige Vorsitzende des Leipziger Paulinervereins, Ulrich Stötzner. In dem modern gestalteten Kirchenschiff sei sie ”das einzige originale Zeugnis aus der völlig erhaltenen, jedoch sinnlos und mutwillig zerstörten gotischen Hallenkirche im Langhaus des Neubaus”. Zudem ist sie von kirchengeschichtlicher Bedeutung. Auf ihr haben Martin Niemöller und Nobelpreisträger Nathan Söderblom gestanden, die damit ihrerseits in die Predigttradition keines Geringeren als Martin Luther traten. Luther wiederum ist es gewesen, der an diesem Ort Christus mit den Worten zitiert hat: ”Dieses Haus ist nicht dazu gebaut, um euch als Kuhstall und Taubenhaus zu dienen.”
Gegen die Denkmalpflege, gegen den Universitätsprediger und gegen den Paulinerverein macht sich nun ausgerechnet die Universität zum Anwalt der Erhaltung der Kanzel. Diese sei, so das Argument, innerhalb des Paulinums nicht mehr gewährleistet. Nachdem bereits die gesamte kirchliche Ausstattung samt Altar hinter einer raumhohen Glaswand weggeschlossen und somit aus dem einstigen Kirchenschiff ausgesperrt worden sind, will man nun verhindern, dass mit der Kanzel ein Element kirchlicher Tradition in dieses zurückkehrt. Das wird bemäntelt mit der Behauptung, dass die Holzkonstruktion der Kanzel dem ”Raumklima” des von der Universität nur noch als Aula bezeichneten Kirchenschiffs nicht gewachsen sei. Zudem behindere die Kanzel die Sicht.
An Abstrusität, ja, Lächerlichkeit sind diese Argumente kaum zu überbieten. Und sie bedeuten den einseitigen Bruch eines Vertrages, den die Universität mit der Landeskirche, dem Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz 2008 geschlossen hat.
Das Beste über den typisch deutschen Streit um Rekonstruktionen hat wohl der Holländer Erik van Egeraat gesagt. Es gilt für den Nachfolgebau der Leipziger Universitätskirche, den er (aus bewusster künstlerischer Entscheidung) in modernen Formen neu errichtet hat, in derselben Weise wie für den Kirchenkampf um die Potsdamer Garnisonkirche, obwohl beide Bauprojekte von Anfang an unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen standen. ”Wir scheiden Gut von Böse ohne viel Federlesens, wir teilen Gebäude rasch in Opfer oder Täter auf; sie werden dramatisch ,letzte Zeugen’ oder gar weniger zurückhaltend ,willige Vollstrecker’ und ,korrupte Parteigänger’ ihres Zeitgeistes genannt. Es stört uns kaum, dass wir dabei unsere eigenen fragmentarischen Ansichten auf diese Gesellschaften auf die Gebäude übertragen, die diese Gesellschaften einst errichteten.”
Egeraat, der sich zu der Philosophie bekennt: ”Architektur ist sowohl/als auch, nicht entweder/oder”, zieht zwischen Kunst und Ideologie einen klaren Trennungsstrich: ”Gebäude mögen genetischer Abdruck ihrer Zeit sein, doch weder in ihren Materialien noch in ihren Teilen stehen sie für die Ideologie der Zeit, zu der sie gehört haben. Stein bleibt Stein und ein Architrav nichts mehr als ein verzierter Balken!”
Und Egeraat stellt den Deutschen unbequeme Fragen, die er als Holländer bescheiden in ein versöhnliches ”Wir” kleidet: ”Ist solches Aburteilen gut für unsere gegenwärtige Welt, in der Vielfalt und friedlicher Pluralismus uns mehr zu bringen scheinen als Moralkeule und Dogmen? Haben wir nicht des Extremismus genug? Müssen wir uns wirklich wieder hinter neuen nationalistischen oder sogar rein antinationalistischen Dogmen verbergen?”
Die Fragen sollten in den erhitzten Gemütern hierzulande lange nachhallen.
Dankwart Guratzsch, die WELT, Seite 21 vom 17.10.2019