Warum wird diese Kirche nicht gebaut?
Der Turm der Potsdamer Garnisonkirche steht wieder. Seit August kamen schon 10.000 Besucher.
Fehlt nur noch das Kirchenschiff.
Von Evelyn Finger Aus der ZEIT Nr. 45/2024 23. Oktober 2024
https://www.zeit.de/2024/45/potsdamer-garnisonkirche-turm-wiederaufbau-thomas-albrecht
Um zu verstehen, nein: um nachzuempfinden, wie schön dieser Kirchturm ist, muss man ihn mit Abstand betrachten. Am besten von Rom aus. Dort lehrt momentan der Mann, der Deutschlands umstrittenste Wiederaufbauten wahr gemacht hat. Thomas Albrecht, Architekt nicht nur des Berliner Stadtschlosses, sondern auch der Potsdamer Garnisonkirche. Er flog im August, am Tag nach der feierlichen Einweihung „seines“ Potsdamer Turms, in die Ewige Stadt, um an der Universität Notre Dame eine Professur für Städtebau anzutreten.
Die erste Kirche, die der Katholik nach seiner Ankunft in Rom besichtigte, war Sankt Paul vor den Mauern. Mit Absicht, sagt Albrecht. Denn die Papstbasilika erlitt Anfang des 19. Jahrhunderts dasselbe Schicksal wie im 20. Jahrhundert die Garnisonkirche und im 21. Jahrhundert Notre Dame in Paris: ein verheerendes Feuer. Drei Tage lang wagte keiner, Papst Leo XII. zu informieren. Sankt Paul liegt recht weit weg vom Vatikan. Als das Unglück geschah, war die Kirche 1.500 Jahre alt.
Thomas Albrecht sagt, zu Hause bei seinem Vater, der Historiker war, habe ein Kupferstich des ausgebrannten Gotteshauses gehangen, der ihn schon als Kind beeindruckte. Worauf er aber hinauswolle: dass die Römer selbstverständlich ihr Sankt Paul wieder aufgebaut hätten, so wie die Franzosen heute in Windeseile Notre Dame. Es bedeute ja nicht, dass die Italiener und die Franzosen alle kirchenfromm seien. „Aber sie halten ihre kulturellen Fundamente in Ehren. Sie wissen, was schön ist. Das Schöne ist ihnen heilig. Deshalb fahren wir alle so gern nach Rom und Paris, nicht nach Wuppertal.“
Und Potsdam? Albrecht hat den Wiederaufbau mit Ziegelsteinen geplant, das ist die hohe Schule alter Baukunst, wie bei Roms Kathedralen. 2,5 Millionen Steine mussten verbaut werden. Dass sie eine Baufirma fanden, die das schaffte, fünftausend Ziegelsteine pro Tag: ein Wunder. Umso peinlicher, dass noch immer das Kirchenschiff fehlt, obwohl Potsdams Stadtparlament bereits im Herbst 1990 den kompletten Wiederaufbau beschlossen hatte. Es war eine der ersten Entscheidungen in der wiedervereinten Republik, angestoßen von den Bürgerrechtlern
des Neuen Forums, befürwortet von einer Zweidrittelmehrheit.
Also: Warum? Warum tun die Deutschen sich mit ihren verwundeten Kirchen so schwer? Erst der Streit um die Dresdner Frauenkirche: Kaum stand sie wieder, wurde sie Wahrzeichen des friedlichen Umbruchs und keineswegs, wie Kritiker geunkt hatten, zum Treffpunkt für Revanchisten. Dann das Ringen um Leipzigs Universitätskirche: Walter Ulbricht ließ sie 1968 sprengen, auf dem Höhepunkt des sozialistischen Stadterneuerungswahns. Nach der Wende verhinderte man mit fadenscheinigen Argumenten einen Wiederaufbau im Herzen der Stadt,
zur Empörung widerständiger Pfarrer wie Christian Führer und Friedrich Schorlemmer.
Nun also die Garnisonkirche. Ihre Kritiker sagen: Als Preußenbau und Bethaus für Soldaten sei sie militaristisch kontaminiert. Vollends unmöglich gemacht habe sie der Reichskanzler Adolf Hitler, als er sich hier am 21. März 1933 mit dem Reichstagspräsidenten Paul von Hindenburg zum Handschlag traf – ein Staatsakt, später berüchtigt als symbolischer Beginn der Naziherrschaft.Doch man kann es auch anders sehen. Der Architekt Albrecht sagt: Nach dieser Logik müsste man halb Deutschland abreißen: zuerst das Brandenburger Tor, das Reichstagsgebäude und das Olympiastadion. „Hitler war leider überall. Und Rom ist voller Bauwerke von Diktatoren.
Es kommt darauf an, was wir heute daraus machen.“ Deshalb ist der neue Turm keine bloße Rekonstruktion, sondern eine rekonstruierende Interpretation. Außen dem Original täuschend ähnlich, innen mit ganz anderen Räumen.
Erbaut worden war die Garnisonkirche vor fast 300 Jahren im Auftrag des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. als Schmuckstück des norddeutschen Barocks. Ihr Turm war der höchste Punkt Potsdams und prägte das Stadtbild als Teil des „Dreikirchenblicks“. Diese Kirche als Hitlerkirche zu verteufeln, ist schon deshalb Unsinn, weil zu ihren Besuchern auch Napoleon Bonaparte und Zar Alexander I. zählten. Vor allem aber: Zur Gemeinde gehörten in der Nazizeit mehrere Verschwörer des 20. Juli 1944, so Henning von Tresckow und Helmuth James von Moltke.
Beim britischen Luftangriff auf Potsdam Mitte April 1945 wurde die Kirche zwar nicht getroffen, fing danach aber Feuer, sodass Dachstuhl und Turm ausbrannten, schließlich ein Blindgänger explodierte und das Kirchenschiff zerstörte. Übrig blieb der beschädigte Turm, in dem sich nach Kriegsende die Gemeinde wieder einrichtete. Erst Walter Ulbricht machte dem ein Ende, als er 1968 die Sprengung befahl. Hier wie in Leipzig störte die Kirche die Plattenbau-Utopie. Mit den Worten des DDR-Staatschefs: „Das Ding muss weg!“
Man sollte meinen, der Satz wäre Grund genug für einen versöhnenden Wiederaufbau. Doch neben ernsthafter pazifistischer Kritik von Pfarrern gab es vor allem Diffamierungen des Projekts: man brandmarkte es als militaristisch und echauffierte sich über den Spendensammler Max Klaar, einen westdeutschen Oberstleutnant a. D., der in den Neunzigern versucht hatte, den Wiederaufbau zu dominieren, bis seine rechte Geschichtsauffassung ruchbar wurde. Daraufhin distanzierte die evangelische Kirche sich scharf, lehnte alle von ihm gesammelten Spendengelder ab.
Geplant wurde die neue Garnisonkirche als Versöhnungsort. Dass er tatsächlich gebaut wurde, darum kämpften vor allem zwei ehemalige Bausoldaten, die noch in der DDR den Kriegsdienst verweigerten – was viel Mut erforderte. Beide sind heute Vorstandsvorsitzende der Stiftung Garnisonkirche. Der eine, Peter Leinemann, ist Geschäftsführer. Der andere, Martin Vogel, hält als Beauftragter der evangelischen Kirche bei den Ländern Berlin und Brandenburg den Kontakt zur Politik. Außerdem ist der Friedensbeauftragte der Landeskirche, Jan Kingreen, nun Pfarrer der Garnisonkirche.
Doch es ist der Turm selbst, der das Friedensversprechen einlöst. Wer ihn besucht, dem fällt zuerst das biblische Motto auf, das wie eine Banderole um den Sockel läuft, in vier Sprachen liest man: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ Im Erdgeschoss gibt es eine Nagelkreuz-Kapelle, die zu dem legendären Netzwerk gehört, das der Bischof von Coventry nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben rief, um die Seelen auf beiden Seiten der vormaligen Front zu heilen. Außerdem erstreckt sich auf halber Höhe des Turms über mehrere Räume die Ausstellung Glaube, Macht und Militär: Der Historiker Jürgen Reiche verwebt hier genial Preußens lichtvolle und dunkle Seiten, zeigt die Verstrickung deutscher Kirchen, Könige und Intellektuellen in die großen Kriege. So spannend und anschaulich wurde das Thema in Deutschland wohl noch nie präsentiert. Wer alle Filme und Objekte sehen, alle Originaltöne hören und die Texte lesen will, braucht neun Stunden. Am bewegendsten ist das Video, das die Sprengung der Garnisonkirche zeigt. Man sieht in Zeitlupe die Staubwolken aufwallen, hört das Ächzen des Gemäuers und spürt: Das war ein Sakrileg! Es ist eine Ausstellung zum Wiederkommen. Es ist ein Ort, wo nun wöchentlich Schulklassen hinpilgern. Und wo die Alten, die den Krieg erlebt haben, Trost finden.
Erster Besucher des Turms war ein 99-jähriger Potsdamer, der mit dem Geschäftsführer hoch auf die Aussichtsplattform fuhr, um ihm das Stadtbild zu erklären. Und als Leinemann sich eines Nachmittags mit einem Blumenstrauß am Eingang postierte, in Erwartung des tausendsten Besuchers, da war dies eine 93-jährige Dame, die ihm berichtete, sie habe hier in der Turmruine 1959 geheiratet. Ob sie die Kapelle noch einmal sehen dürfe? Natürlich! Leinemann begleitete sie zum Altar, um mit ihr des verstorbenen Ehemannes zu gedenken. „Deshalb bin ich Protestant“, sagt Leinemann. „Weil ich fest glaube, dass wir Laien auch Seelsorge machen sollen.“ Er erzählt von der Potsdamer Oberbürgermeisterin, die 1968 nicht gegen die Sprengung opponierte, aber nach der Wende öffentlich zugab: Das war eine Kulturbarbarei. So wurde sie zur Unterstützerin des Wiederaufbaus, und als der millionste
Ziegelstein gesetzt wurde, war sie dabei.
Leinemann betont, dass die wahren Schwierigkeiten des Baus nicht ideologische, sondern technische waren. Dazu das Kalkulieren der wegen Corona und Ukrainekrieg explodierenden Baukosten. Doch die Diffamierungen nervten. Seiner Mutter habe er zur Beruhigung gesagt: „Wenn alles, was in der Zeitung steht, wahr wäre, hätte ich mich schon erschossen.“ Als in einem Bürgerbegehren dann der Vorwurf erhoben wurde, im Kuratorium säßen Nazis, da habe es ihm gelangt, da habe er zurückgefragt: Wer? Und dann sei er alle Namen durchgegangen: Matthias Platzeck, SPD, Brandenburgs Ministerpräsident? Jörg Schönbohm, CDU, Brandenburgs Innenminister? Manfred Gentz, Finanzvorstand bei Daimler? Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der EKD?
Huber selbst sagt über den Wiederaufbau: „Ich habe mich erst darauf eingelassen, als klar war, dass die Bonner Nationalisten raus sind.“ Gemeint ist die westdeutsche Initiative um Max Klaar, der die Kirche als preußisch-nationalistischen Ort wiederbeleben wollte. Huber in seiner Doppelfunktion als Landesbischof und Ratsvorsitzender lehnte nicht nur Klaars Ansinnen, sondern auch die beträchtlichen Spenden ab. „Ich habe immer gesagt: Wir lassen uns durch Geld nicht nötigen. Wo Kirche draufsteht, muss auch Kirche drin sein.“ Ihm selbst seien am wichtigsten gewesen: die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte und eine klare Vision für die künftige Nutzung. „Eine Kirche ist nicht zum Repräsentieren da. Sie ist ein geistlicher Ort und kein Museum mit Glocken.“ Deshalb habe er auch das Kirchenschiff nicht unbedingt durchsetzen wollen. Dazu habe der Bedarf gefehlt, zumal so nah bei der restaurierten Nikolaikirche. Geschmerzt habe ihn, dass der große ostdeutsche Theologe Heino Falcke strikt gegen den Wiederaufbau war. „Da merkte ich, dass es nicht gelingen wird, alle Gutwilligen zu einen.“
Gelungen ist aber etwas anderes: ein Ort, wo man über die Themen streiten kann, die derzeit den meisten Ärger machen. So sagt es Pfarrer Vogel, der einst Hubers Referent war und heute neben Leinemann der wichtigste Ideengeber der Garnisonkirche ist. Es gehe hier um Ost und West, Krieg und Frieden, Kirche und Staat. „Mut ist eine Mischung aus Leichtsinn und Begeisterung. Das haben wir gebraucht. Mit Zauderhasen wäre hier nie etwas geworden.“
Apropos. Wird sie nun komplett gebaut? Prominente Unterstützer wie Platzeck und Steinmeier finden mittlerweile, der Turm genüge. Wahrscheinlich sind sie der Kämpfe müde. Wer aber vom wiederauferstandenen historischen Zentrum Potsdams zum Turm spaziert, wer den ruinösen Plattenbau sieht, den Ulbricht auf den Baugrund der Kirche klotzen ließ, der weiß: Der Bau ist noch nicht fertig.
Viele Spender sehen das auch so. Bislang bekam das Projekt schändlich wenig öffentliche Gelder. Der Bund gab zwar 25 Millionen Euro, aber die Kirche nur ein Darlehen, die Stadt nichts. Umso großzügiger waren private Geldgeber. Man kann ihre Namen auf den Ziegelsteinen (je 100 Euro) und an den Treppenstufen (je 2.000 bis 5.000 Euro) lesen. Nina von Maltzahn gab 750.000 Euro. Günther Jauch 1,5 Millionen. Wahr ist leider auch, manche Spender möchten ihre Namen nicht nennen, aus Angst vor Kritik.
Der Architekt Thomas Albrecht glaubt dennoch an die ganze Kirche. Sie sei einfach zu schön, um nicht gebaut zu werden. „Die Deutschen müssen immer alles politisieren. Das schmerzt. Aber ich bin sicher: Schönheit setzt sich durch.“