Häufig ist die Reaktion auf die Information zu unserem Stiftungssitz „Wir sitzen in Potsdam“ der spontane Ausruf „Ach schön!“. Aber was ist schön an Potsdam? Das UNESCO-Welterbe der Schlösser und Gärten in der Potsdamer Seenlandschaft?
Die kleinstädtisch anmutende Innenstadt mit dem Holländischen Viertel? Schinkels Nikolaikirche oder das neue Hans Otto Theater von Gottfried Böhm? Der neue Landtag im rekonstruierten Stadtschloss oder das benachbarte Hotel Mercure? Der gepflegte Park auf der Freundschaftsinsel oder der Nachwende-Hauptbahnhof mit Shopping-Center von gmp?
Die Reaktion hat meist einen Anklang von Stoßseufzer und beinhaltet vieles: „Ach, schön und gut, in Potsdam ist die gebaute Welt noch in Ordnung. Nachvollziehbar, dass die Bundesstiftung Baukultur in diesem harmonischen Umfeld einer zweifelsfrei schönen (Altbau-)Architektur residiert.“
Werden mit schöner Architektur also zunächst Altbauten assoziiert und wenn ja, warum? Wir haben gerade eine bundesweite repräsentative Umfrage durchgeführt und erfahren, dass 36 Prozent der Bevölkerung Altbauten schöner finden als Neubauten. Nur sieben Prozent sehen es umgekehrt. Da wundert es nicht, dass 80 Prozent der Deutschen auch die Rekonstruktion historischer Gebäude befürworten.
Der am häufigsten genannte Architektenname ist Friedensreich Hundertwasser (elf Prozent), weit vor Karl Friedrich Schinkel (fünf Prozent) oder Zaha Hadid (ein Prozent). Kein Wunder also, dass die Ansage in der Bahn jedes Mal auf den Halt im (schönen) Hundertwasser-Bahnhof in Uelzen hinweist, einer sicherlich fotogenen, aber funktional monströs verbauten Kiste. Auch beim neuen Holzmarktquartier in Berlin hat sich die Bauherrenschaft Hundertwasser zum Vorbild genommen und die Gebäude nach dem robusten und klugen Grundgerüst der Architekten von „Hütten und Paläste“ selbst opulent gestylt und trashig dekoriert. Der Publikumsgeschmack und die Resonanz junger Menschen zeigen mit dem Daumen nach oben.
Wege zum Ornament: Im Berliner Holzmarktquartier wird die Architektur künstlerisch dekoriert,…
Das Ornament hat bereits seit der Postmoderne wieder Konjunktur. Das Institut du Monde Arabe, das Jean Nouvel vor zwanzig Jahren in Paris gebaut hat, ist mit seiner orientalischen Ornamentik des fotolinsenmechanischen Sonnenschutzes für mich so etwas wie ein Meilenstein eines neuen, zeitlosen Dekors, das auch sinnlich wirkt. Es zitiert, gliedert und rhythmisiert Fassaden, macht sie apart, vielleicht schön.
… am Pariser Institut du Monde Arabe wird die Funktion zum Dekor.
Dennoch entsteht echte Schönheit in der Architektur nicht durch dekorative Maßnahmen, sondern durch innere Werte der Funktion, der Formfindung und des Gebrauchs sowie durch die Fähigkeit, uns emotional zu berühren. Erst wenn dieser gemeinsame Nenner der unmittelbar auf uns wirkenden Schönheit zum Tragen kommt, entsteht eine Wirkung, der sich niemand entziehen kann. Aus dieser Schönheit resultiert die dauerhafte Dimension von Architektur. Dabei geht es nicht darum, sich dem Wandel zu widersetzen und ohne Kontext zu entwerfen, sondern um eine Haltung, die den menschlichen Maßstab berücksichtigt, räumlich und sinnlich.
Als das Rendering der Elbphilharmonie zum ersten Mal veröffentlicht wurde, entstand so etwas wie ein kollektives „Wow-Gefühl“, ein Berührtsein und Unbedingt-haben-Wollen über alle Bildungsschichten hinweg. 80 Prozent der Hamburger wollten genau dieses Gebäude. Dass es nicht der Funktion folgt und später zu einer gigantischen konstruktiven und finanziellen Herausforderung wurde, wissen wir heute. Die Hamburger Architektenschaft hat in diesem Einzelfall auf die Durchführung eines Wettbewerbs verzichtet und der Beauftragung von Herzog & de Meuron zugestimmt, sicher auch, um dem atemberaubend schönen Entwurf zur Geltung zu verhelfen.
Architektur und Städtebau haben sich meiner Meinung nach zu lange mit einer kulturkritischen Schönheitsdebatte befasst und im Ergebnis „Geschmacksverirrungen“ der Bauherren beklagt. Anfang der Achtzigerjahre hat der Pädagoge und Journalist Claus Borgeest sogar eine schichtenspezifische Unterscheidung vorgenommen. Dabei ist unerheblich, ob als Klischees das Unechte, Billige oder Glitzernde unterer Sozialschichten oder das Protzige, Teure, Monströse oberer Mittelschichten zum Geschmacksmaßstab werden. Beides ist unangemessen und wirkt vermutlich auf die Betroffenen selbst wenig überzeugend. Anders kann man sich ja ein Immer-mehr-Davon nicht erklären. Borgeest hat daraus den Schluss gezogen, dass Geschmack und ästhetische Urteilskraft nicht reichen: „Das Schöne ist nur schön, wenn es von der Eigenart der Menschen beseelt wird.“ Bei diesem Zusammenspiel von gebautem Raum und Sozialraum sind wir ganz nah bei derjenigen gelungenen Baukultur, die wir als Stiftung voranbringen wollen.
Das geht aber, selbst von der Warte eines ausgebildeten Gestalters aus gesehen, nicht über Geschmacksschulungen. Sinnvoll ist eine Information über Proportionen – im Sinne von Loos auch über jene der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen –, über Harmoniegesetze, Formgebung, Materialien, Dauerhaftigkeit, Nachhaltigkeit und Baukultur. Eine Wissensvermittlung, die zu sehen hilft. Hier treffen sich die Verfechter des schönen Bauens und der Stadtbaukunst mit denen der Baukulturvermittlung. Wenn es uns dabei gelingt, dem Kriterium der emotionalen Berührtheit („Ach schön!“), ähnlich wie bei der Musik oder der bildenden Kunst, zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen, sind wir einen großen Schritt weiter – bei der Wahrnehmung und beim Bedeutungszuwachs guter Architektur.
Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, Potsdam